THOMAS ULRICH:
AUFEINANDER AUFPASSEN UND DAS RESTRISIKO AKZEPTIEREN

Polarabenteurer Thomas Ulrich über Team-Expeditionen, Eisbären – und Corona.

Er hat im Jahr 2003 zusammen mit dem Norweger Borge Ousland als Erster das Inlandeis Patagoniens durchquert, trieb drei Jahre später tagelang allein (ungeplant) auf einer langsam schmelzenden Eisscholle im Nordmeer und hat erst kürzlich zusammen mit der Kletterlegende Stefan Glowacz Grönland zu Fuß durchschritten: Wenn einer mit widrigen Umständen umgehen kann, dann der Schweizer Polarabenteurer, Fotograf und Autor zahlreicher Outdoorbücher Thomas Ulrich. Was denkt so jemand über die Coronakrise?

Ich habe mit ihm darüber gesprochen.

Thomas’ Begegnung mit einer Eisbären-Familie. Er und Børge Ousland erreichen Franz Josef Land vom Nordpol aus zu Fuß.

Ich verstehe, dass die Menschen Angst haben

Thomas, wo bist Du jetzt gerade?

Thomas Ulrich: Zuhause. Leider. Eigentlich sollte ich mit Kunden am Polarkreis unterwegs sein, aber in der aktuellen Zeit ist das natürlich leider nicht möglich. Auch meine Vorträge danach: Alle wegen Corona abgesagt. Aber ich verstehe natürlich, dass die Menschen Angst haben …

Hast Du denn keine?

Thomas: Schon. Aber ich glaube, das wirkt sich bei mir nur etwas anders aus.

Scoresby Sund. Kletterexpedition zum Grundtvigskirken in Ostgrönland.

Du darfst die Risiken nicht ausblenden

Warum denkst du, dass sich Angst bei dir anders auswirkt?

Thomas: Weil ich mich als Abenteurer bewusst zusammen mit meinen Begleitern öfters gefährlichen Situationen aussetze. Auf Expeditionen fernab der Zivilisation lernst Du Risiken einzuschätzen, als Team darauf zu reagieren und mit Deiner individuellen Angst entsprechend umzugehen, ja sogar jeden Tag mit ihr zu leben. Letztlich ist die Corona-Lage sehr gut mit einer Expedition vergleichbar.

… Du hattest dazu neulich etwas Ähnliches auf Social Media geschrieben. Es ging darum, auch in schwierigen Zeiten die Realität anzunehmen und nicht den Kompass zu verlieren.

Thomas: Genau. Du darfst Risiken nicht ausblenden. Der Eisbär beispielsweise, wird auf dem Polareis erst dann zum echten Problem, wenn Du oder jemand in Deinem Team seine Gefährlichkeit unterschätzt. Dann kommst Du schnell in heikle Situationen. Auch unverschuldet. Wenn Du das von ihm ausgehende Risiko hingegen annimmst und Dein Handeln daran orientierst, entsteht daraus unglaublich viel Positives. In meinem Fall Bilder, Eindrücke und Emotionen, die für mehr als ein Leben ausreichen.

100% Sicherheit gibt es nirgendwo

Aber sind wir ehrlich: Ein Restrisiko von einem Eisbär überrascht und getötet zu werden wird doch trotz allem immer bleiben, oder? Begebt Ihr euch nicht ständig mutwillig in Gefahr?

Thomas: Nein. Denn 100% Sicherheit gibt es nun mal nicht. Nirgendwo. Auch beim Autofahren in Zürich nicht. Aber würde deshalb jemand alles zu Fuß laufen? Niemals. Also sollte es für jeden von uns darum gehen, situationsgerecht zu handeln, das Restrisiko zu akzeptieren und Freude am Leben zu haben – nicht Angst davor. Ich finde das ist vor allem momentan eine sehr wichtige Botschaft.

Solo-Expedition in der Arktis.

Unsere Gesellschaft hat verlernt Ängste auszuhalten

Du spielst auf die Coronakrise an. Könnte man überspitzt sagen: Was für den Polarbereich der Eisbär, ist hier für uns aktuell Covid-19?

Thomas (lacht): Das ist jetzt natürlich sehr überspitzt. Aber letztlich sind nun mal beide ein Teil dieser Welt. Und es gibt für beide klare Szenarien und Regeln, um das von ihnen ausgehende Risiko möglichst klein zu halten. Wenn wir alle danach leben, auf uns gegenseitig aufpassen und gesunden Menschenverstand anwenden, gibt es also keinen Grund in Panik zu verfallen. Das Leben bleibt immer gefährlich. Wir haben es als Gesellschaft nur mehrheitlich verlernt das zu akzeptieren, in unseren Alltag einzubauen und die damit verbundenen Ängste auszuhalten – unabhängig davon, worauf sie sich im Einzelfall beziehen.

Danke Dir für das Gespräch.

Mehr zu Thomas Ulrich gibt’s auf seiner Homepage und auf Instagram.

Interview und Text: Markus Schaumlöffel
Fotos: (c) Thomas Ulrich

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Auch Thomas Ulrich muss nicht immer weit weg, um Abenteuer zu erleben

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