Grenzen testen, respektieren und überwinden – mit dem Flow-Jäger Dr. Michele Ufer
Sportpsychologe, Extremläufer und Mentaltrainer Dr. Michele Ufer lebt nach dem Prinzip: Minimaler Aufwand, maximaler Erfolg – und stiehlt sich für den optimalen Flow regelmäßig selbst die Show. Wie seine Jagd nach dem Flow genau aussieht, hat er außerdem in einem Buch festgehalten.
Alle sagten das geht nicht. Dann kam Dr. Michele Ufer und hat es trotzdem geschafft: Der erfolgreiche Experte in Sachen Flow und mentaler Stärke lief 2011 – damals noch als blutiger Anfänger und nach nur dreieinhalb Monaten Vorbereitungszeit – beim 250 km Ultramarathon in der chilenischen Atacama-Wüste als Siebter durchs Ziel. Das schafft nur ein Profiläufer? Von wegen! O-Ton: „Früher beim Kicken waren Kondi- und Lauftraining immer eher ein notwendiges Übel.“
Wir haben mit dem willensstarken Normalroutenverlasser über das Überwinden der eigenen Grenzen und seinem Verhältnis zu gängigen Coaching-Attitüden gesprochen.
Du meintest, Laufen war früher eher ein notwendiges Übel. Wie kommt’s, dass Du heute ausgerechnet als Extremläufer in der ganzen Welt unterwegs bist?
Michele: Als Sportpsychologe bringe ich Sportlern vor allem bei, wie man seine mentale Stärke trainieren kann. Gerade beim Fußball ist das auch sehr wichtig. Später habe ich dann einen Bericht über Wüstenläufe gelesen und war sofort sehr angetan. Ich dachte, das ist der optimale Test um zu beweisen, dass meine kognitiven Methoden funktionieren. Also habe ich mich im November 2010 für den Ultramarathon in der Atacama-Wüste angemeldet. Dabei hatte ich nie den Gedanken jetzt Profiläufer werden zu wollen, sondern eigentlich nur, dass ich in meinem Beruf noch besser werden möchte.
Was Dir ja auch gelungen ist, denn Du bist unter den ersten Zehn im Ziel gelandet und konntest dadurch beruflich weiter durchstarten. Wie ging es danach weiter?
Michele: Ich war erstmal völlig überwältigt davon, dass ich es tatsächlich geschafft hatte. Einfach ein Wahnsinnsgefühl! Und dieses Gefühl hat bis heute angehalten. Seitdem nehme ich regelmäßig an Läufen teil. Ich war inzwischen schon auf fünf verschiedenen Kontinenten, um mich dort den meist mehrtägigen Herausforderungen zu stellen. Beispielsweise am Polarkreis, im Himalaya oder auch im Regenwald.
Ich vergleiche manche Marathon-Veranstaltungen in Deutschland immer mit dem Ballermann
Bewegst Du Dich nur unter extremen Bedingungen oder nimmst Du auch mal an kleineren Volksläufen in der Heimat teil?
Michele: Sowohl als auch. Wobei die Erlebnisqualität bei mehrtätigen Etappenläufen in fremden Kulturen und extremen geographischen Lagen einfach eine ganz andere ist. Ich vergleiche manche Marathon-Veranstaltungen in Deutschland immer mit dem Ballermann. (lacht)
Mit dem Ballermann? Wie kann ich das verstehen?
Michele (lacht): Naja, hier werden die Läufer ja wild am Straßenrand gefeiert, beklatscht, mit motivierenden Bannern bei Laune gehalten und meistens wird das Ganze auch noch professionell moderiert und mit motivierender Musik untermalt. Fast schon eine Art Animationsprogramm für Teilnehmer wie Zuschauer. Im Anschluss regnet es dann Medaillen und Kuchen für alle. Versteh’ mich bitte nicht falsch, das ist toll und jedes Mal entsteht dabei ein wunderbares Gemeinschaftsgefühl. Aber Extremläufe unter bestimmten klimatischen und geographischen Bedingungen kann man damit einfach nicht vergleichen. Das sind existenzielle Grenzerfahrungen, die man da macht. Meistens war ich komplett auf mich gestellt, viel allein und hab eine völlig andere Welt kennengelernt. Mir geht es auch nicht um das Tohuwabohu rundherum, sondern darum, meine ureigenen Bedürfnisse zu befriedigen.
Und wie lauten die?
Michele: Grenzen ausloten. Und zwar nicht nur die sportlichen. Mir geht es auch darum, Abenteuer zu erleben und Neuland zu entdecken. Ich liebe Mikroexpeditionen, neue visuelle Eindrücke und interkulturelle Begegnungen. Das ist unglaublich spannend! Während der Touren trage ich dann das Wichtigste im Rucksack bei mir. Das verleiht zwar zusätzliches Gewicht, aber es steht eben keiner am Rand und reicht dir mal eben eine Banane oder einen Keks herüber, wie das bei Volksläufen oft der Fall ist. Während der Langstreckenläufe wirken einfach ganz andere Kräfte auf dich ein und man muss sich regelmäßig selbst motivieren, um im Flow zu bleiben.
Wie schaffst Du das? Hörst Du Musik oder motivierende Podcasts währenddessen?
Michele: Ich kann die Menschen verstehen, denen das hilft. Und auch ich höre Lieder beim Laufen – aber eben nicht mit Kopfhörern, sondern in Gedanken. Die Lieder summe ich dann zum Beispiel vor mich hin oder singe sie lautlos im Kopf. Auf diese Weise steuere ich meine Aufmerksamkeit ganz bewusst und kann sie, wenn die Beine anfangen zu schmerzen oder Gedankenspiralen sich zu drehen beginnen, in eine andere Richtung lenken. Auf meiner inneren Playlist erinnert mich jeder Song an eine bestimmte Situation. Und diese Erinnerungen helfen, bestimmte zieldienliche Gefühle und Gedanken zu aktivieren. So bin ich autark unterwegs und meine Antennen bleiben offen für die Umgebung.
Sie spannten eine Rolle Klopapier als Ziellinie auf
Hört sich irgendwie schön an. Welche Umgebung hat Dich denn besonders fasziniert – oder besser gesagt: Welche Ziellinie war bisher Deine schönste?
Michele: Jeder Spot hat seinen ganz eigenen Reiz und für sich etwas Fantastisches oder Bewegendes. Aber hinsichtlich der Ziellinie: eindeutig die in Peru! Und es war auch nicht die Endlinie nach 250 Kilometern, sondern ein Etappenziel am dritten oder vierten Tag. Es war brutal heiß, mir lief die Soße vom Rücken und der Anstieg wollte einfach nicht aufhören. Nach Etappenende kam ich dann sehr geschafft in einem kleinen Dorf an, wo eine Gruppe Kinder mit einem peruanischen Häuptling am Straßenrand wartete. Sie spannten eine von der hohen Luftfeuchte völlig durchweichte Rolle Klopapier als Ziellinie auf und hängten mir danach noch eine selbstgemachte Willkommenskette um den Hals. Den Empfang werde ich nie vergessen, der war so herzlich und echt. Ich hab mich wirklich sehr geehrt gefühlt. Da kann für mich persönlich jede Profimoderation oder pompöse Siegerehrung mit Partymusik einpacken.
Wow, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Heute gibst Du Deine wertvollen Erkenntnisse und Erfahrungen in Form von Büchern, Coachings oder Vorträgen weiter. Bist du der Meinung, mit dem richtigen Mindset und konstanter positiver Denke ist alles zu schaffen? Auch das regelmäßige Überwinden eigener Grenzen?
Michele: Also dem Habitus der „Think-positive-Mentalität“ und einer Reihe gängiger Motivationssprüche, wie „Du kannst alles erreichen, wenn du nur willst“ oder „Reiße deine Grenzen ein“ stehe ich ziemlich kritisch gegenüber. Meiner Meinung nach sind sie nicht nur vielfach falsch und schlichtweg gelogen, sondern sie können sogar gefährlich werden. Schließlich sind eigene Grenzen auch wichtig. Vor allem, sie zu erkennen und zu respektieren. Sie können uns vor gefährlichen Situationen bewahren.
Oft weiß das Bauchgefühl schon Wochen vorher genau Bescheid
Zum Beispiel?
Michele: Zum Beispiel war ich neulich mit dem Rad auf einer Brücke unterwegs. Sie war recht schmal und ein PKW rauschte an mir vorbei. Ich bin dann plötzlich in die Leitplanke geschlittert und ich war echt heilfroh, dass sie da war. Die Planke hat eine Grenze zwischen mir und der Tiefe gebildet. Grenzen haben also auch eine sinnvolle und schützende Funktion. Und gerade in der Coaching-Welt wird das leider oft missverstanden. Es hilft nichts, andauernd nur positiv zu denken und zu sagen, du kannst alles schaffen. Das ist naiv. Gerade als Coach sehe ich es als meine Aufgabe an, zu vermitteln, wie wichtig es ist, auf sich und seine innere Stimme zu vertrauen. Oft braucht es gerade bei herben Enttäuschungen Momente der Trauer, Verarbeitung und Auseinandersetzung. Hier nur plump mit „Ich bin toll, mir geht es gut, alles ist prima und ich schicke den nächsten Wunsch ins Universum“ zu reagieren ist wenig hilfreich. Das kann schnell auch zu Burnout oder anderen Erkrankungen führen.
Wenn mir meine innere Stimme sagt, mach das lieber nicht, dann hat das womöglich auch einen wichtigen Grund. Oft weiß das Bauchgefühl schon Wochen vorher genau Bescheid. Darauf zu hören kann jeder lernen. Das sage ich auch den Menschen, die sich von mir coachen lassen. Es ist wichtig, ein Bewusstsein für die ureigenen Bedürfnisse zu haben und seine Ziele entsprechend zu gestalten. Sie regelrecht spürbar zu machen und emotional zu verinnerlichen, damit sie langfristig tragen. Auch in schwierigen Situationen. Häufig besteht die Gefahr, dass eigene Bedürfnisse und Ziele von außen überlagert werden. Man meint, es wären die eigenen, aber eigentlich hat man sie unbewusst von anderen übernommen. Beispielsweise von den Kollegen, dem Trainer oder der Gesellschaft. Das Verfolgen solcher „fremdbestimmter Ziele“ kann für erheblichen Druck, Demotivation und Frust sorgen.
Michele, das war wirklich ein spannendes und aufschlussreiches Gespräch und ich bin schon gespannt, wo Du als nächstes in der Welt durchs Ziel laufen wirst. Hast Du zum Abschluss noch einen Tipp, wie man während Krisenzeiten in den Flow kommt?
Michele: Allerdings. Immer wenn dir jemand einen goldenen Motivationstipp verspricht, hör nicht hin. Unsere Gehirne sind alle unterschiedlich. Wir blicken auf unterschiedliche Erfahrungen zurück, haben unterschiedliche Stärken, Bedürfnisse und Ziele. Unter diesen Voraussetzungen anzunehmen, dass es den einen tollen Tipp gibt, der allen hilft, naja, das kann doch nicht wirklich funktionieren. Und das tut es ja auch nicht. Ansonsten wären wir bei all den Motivationstipps, die permanent auf uns einprasseln, alle super Motivationsmonster, stets glücklich und gesund, zufrieden, reich, erfolgreich, hätten unsere Traumfigur usw. Aber ist dem so? Da macht es in meinen Augen mehr Sinn, etwas Zeit zu investieren und sich mit einem Experten auf persönliche Spurensuche zu begeben. Oder ne Runde laufen zu gehen.
Vielen Dank für den Tipp, nicht auf Tipps zu hören. Und natürlich auch vielen Dank für das wunderbare Interview.
Interview und Text: Nadine Zwingel
Fotos: Michel Ufer
Komm mit Michele in den Flow
Aber was genau ist unter Flow zu verstehen? Wie entsteht dieser besondere Zustand? Welche Auswirkungen hat er auf die Leistung und Zufriedenheit? Wie können wir mehr Flow in unser Leben bringen, nicht nur beim Laufen?
Dr. Michele Ufer wollte es genau wissen, also machte sich der Flow-Jäger auf zu einer außergewöhnlichen sport- und motivationspsychologischen Forschungsreise, die ihn auf vier Kontinente führte – immer auf der Jagd nach Flow-Erlebnissen.
€ 24,90 | ISBN 978-3-667-11051-0